Der geschichtliche Massenmord 1972

" Es gibt Zeitpunkten in unserem Leben,

wo alles, was uns übrigbleibt,

würdig zu sterben ist "

Nadine Nyangoma "Le chant des fusillés"

*****

***

Es war am 28.April 1972. An jenem Tag stand ich sehr früh auf. Ein Gefühl der inneren Unruhe durchdrang mich. Mir war es, als ob die Atmosphäre schwerer als gewöhnlich wäre. Den ganzen Tag verließ mich dieses Gefühl nicht. Ich merkte, daß es mein Freund Ali auch komisch zumute war. Während der Vier-Uhr-Pause pflegten wir Fußball zu spielen. Ich beschloß, mich mit meinen Kameraden zu treffen, um mich zu amüsieren. Ali blieb auf den Stufen stehen, den Kopf zwischen den Händen. Er war ganz in Gedanken versunken. Ich näherte mich ihm.

« Was hast du denn, Ali? Warum spielst du nicht mit uns?  Bist du krank?», fragte ich ihn.

« Nein, Doudou. Ich bin nicht krank. Mir ist nur komisch zumute. Mir ist es, als ob etwas Schreckliches passieren wird ».

« Komisch! Ich habe dasselbe Gefühl. Aber es ist kein Grund, um dich nicht zu amüsieren. Komm doch mit !».

Ich hatte auch keine Lust Fußball zu spielen, aber es war der einzige Weg, um diesen Stress verschwinden zu lassen. Ich fühlte auch, dass etwas Furchtbares geschehen würde, etwas dass ich noch nicht genau wissen konnte. Ich war ein bißchen wie mein Vater und mein Großvater. Sie konnten ihre Träume deuten, so daß sie manchmal im voraus wussten, was passieren würde. Und jedesmal wenn sie uns etwas, was sie im Traum gesehen hatten, voraussagten, traf es sicher ein.

Man behauptete, mein Vater habe am Tag seines Todes zu meiner Mutter gesagt, er würde umgebracht werden und er erzählte auch wie. Er habe auch ein paar Kleinigkeiten genau angegeben, die mich noch heute erstaunen.

Wir gingen die Stufen hinunter und spielten mit unseren Kameraden. Aber der Stress verließ uns nicht. Der Abend verlief ganz ruhig, sowie immer. Wir gingen ins Bett um 21 Uhr wie gewöhnlich. Die Nacht war furchtbar. Ich konnte nicht schlafen. Gegen Mitternacht machte ich meine Fensterläden auf und beobachtete den Angler auf dem Tanganjikasee. Schade um Ali, der dieses Glück nicht hatte Angler zu beobachten. Sein Zimmer hatte keinen Blick auf den See, sondern auf die Buhonga’s Dörfer. Aber ich ahnte, daß er auch nicht eingeschlafen war.

Ich wurde immer müder, und als ich am Einschlafen war, hörte ich das Knattern von Maschinengewehren und Granatenexplosionen. Gedankenlos schaute ich auf die Stadt. Hier und da brannten Häuser. Das Schützenfeuer dauerte die ganze Nacht fort und ging bis zum Morgen weiter. Da wir kein privates Radio hatten, konnten wir nicht wissen, was geschehen war. Es gab ein öffentliches Radio in der Schule, das um 11 Uhr eingeschaltet wurde. Wir stürzten unter den Lautsprecher.

« Feinde haben mit automatischen Gewehren unsere Heimat angegriffen » sagte der Stabschef der Armee. « Die Armee hat sofort interveniert und die Unruhestifter werden jetzt bekämpft. Wir bitten die Leute, ruhig zu bleiben und immer wachsam zu sein, weil immer noch Feinde unter uns sind. Wir bitten auch die BürgerInnen, die guten Willens sind uns zu helfen, diese Feinde zu identifizieren und sie unschädlich zu machen. Sie verbergen sich überall: in den Dörfern, in den Städten, in den Schulen, in der Universität sowie auch im religiösen Orden... ».

Die Rede war sehr klar. Die « Heimatsfeinde » waren nichts anderes als die Hutu, und sie mussten unbedingt ausgelöscht werden.

In den nächsten Tagen spaltete sich die studierende Gemeinschaft. Diskussionen fanden in kleinen ethnischen Gruppen statt. Hutus in ihren Gruppen und Tutsis auch. Ein paar Tutsi Schüler wurden eingeladen, Listen von ihren Kameraden « Heimatfeinde » anzufertigen. Die Listen würden direkt zu den Militärherrschenden weitergeleitet. Für unsere Klasse waren Prime, Pascal und Evariste zuständig. An einem Abend, als wir im Studiensaal waren, kamen Militärs und verhafteten ein Halbdutzend Schüler. Benoît, Bernard und Charles gehörten dazu. Wir sollten sie nie mehr sehen.

Nicht weit vom Eingang des Gymnasiums entfernt gab es eine Militärstellung, die « auf die Sicherheit der Schülern» achten sollte. Ich sah oft Prime, Pascal und andere Spitzel die Soldaten der Stellung besuchen. Später wusste ich, daß sie einen Plan vorbereiteten, um die Hutu-Schüler des Gymnasiums umzubringen. Man berichtete, es seien keine « Heimatfeinde » mehr im Gymnasium Athenée, in der Kamenge-Technikschule, in der Lehrerhochschule sowie auch in der Universität und in mehreren Sekundärschulen. Entweder waren die Hutu-Schüler einfach umgebracht worden oder geflohen. Es fragte sich nur noch, ob das « Heiliggeistgymnasium » auch von « Heimat-feinden » befreit würde. Die Jesuiten schützten das Gymnasium, obwohl sie Gefahr liefen, ihr Leben zu verlieren.

Die Militärs, die das Gymnasium beaufsichtigten, waren sehr gut ausgerüstet und immer bereit, « jeden Aufstand zu bändigen ». Als der Aufstand lange auf sich warten ließ, musste man ihn irgendwie provozieren. Es gab drei Refektorien für Schüler, das eine für Schüler von den höheren Klassen, das zweite für Schüler von den mittleren Klassen und das andere für Schüler von den tiefen Klassen.

Eines Abends, als wir gerade beim Essen waren, wagte sich ein gewisser Jean-Claude an Alphonse heran. Es war im Refektorium der großen Schüler. Es gab einen Wirrwar. Wenig später kamen bewaffnete Soldaten. Sie hielten eine Liste von Verdächtigen in der Hand. Die armen Schüler wurden sofort in das Refektorium der Jesuiten gebracht. Die Soldaten spannten ihre Gewehre und warteten nur auf einen Befehl, um zu schießen.

Pater Seigneur stellte sich zwischen das Erschießungspeloton und die verurteilten Hutu-Schüler.

« Stoßt diesen elenden Kerl weg » verordnete Bicebose, der Unteroffizier, der das Peloton leitete.

Pater Seigneur bekam einen tüchtigen Gewehrkolbenschlag auf den Bauch. Er fiel auf den Rücken. Armer Pater Seigneur. Er röchelte.

« Legt an! » schrie der Unteroffizier.

« Es gibt auch Kongolesen dazwischen » sagte Pater Seigneur mit letzter Anstrengung.

« Zeigen Sie uns schnell alle Kongolesen » rief Bicebose

« Töten Sie sie alle, wenn Sie wollen. Das geht mich nichts an » sagte Pater Seigneur.

Pater Seigneur kam würdervoll hinaus. Der Unteroffizier befahl den Soldaten, hinauszugehen, und den Schülern, ins Refektorium zurück-zugehen. Wir standen schon sehr wie versteinert, dort aber wie leich wurden uns ums Herz, als alle Schüler lebendig zurückkamen. Nach einem Gespräch mit einigen Tutsi-Schüler nahmen die Soldaten Alphonse mit für eine Befragung. Wir sahen ihn nie mehr.

Danach wurde die Spannung zwischen Tutsis und Hutus immer heftiger. Sie wagten nicht mehr, auf denselben Bänken zu sitzen. Jeder Schüler hatte sein eigenes Zimmerchen mit Dusche und Lavabo; das verminderte erheblich die Streitigkeiten.

Da wir keinen Schlüssel hatten, versperrte jeder von uns sein Zimmer auf seine Weise. Ich schlug einen Nagel in die Wand über der Tür ein. Ein fester Eisendraht wurde an dem Nagel und an dem Tügriff festgemacht, so daß man von außen die Tür nicht aufmachen konnte. Das System war von außen nicht sichtbar aber trotzdem wirksam. Es war auch nutzlos. Ich hatte nämlich nichts zu schaffen mit schädlichen nächtlichen Besuchern.

Die Gefahr lag anderswo. Die Jesuiten hatten den Schülern, welche die Möglichkeit dazu hatten, erlaubt heimzukehren. Es gab in jeder Klasse freiwillige Schüler, die bereit waren, die heimkehrenden Schüler zu begleiten. Evariste war für unsere Klasse zuständig. Durch versöhnliche Reden ist es ihm gelungen, das Vertrauen von manchen Hutu-Schülern zu gewinnen.

An einem Abend sah ich Evariste im Gespräch mit Gamaliel. Ich fand heraus, daß Gamaliel am Morgen danach früh nach Hause zurückkehren wollte. Evariste bot an, ihn zu begleiten. Ich wusste sofort, daß etwas nicht stimmte. Ich spürte voraus, daß Gamaliel irgendwie in Gefahr war.

Mein Zimmer hatte einen Blick auf den Obstgarten der Jesuiten. Dort ging war der Fußweg zur Stadt durch.

Ich stand sehr früh auf und machte meine Fensterläden ein wenig auf. Wenig später sah ich Gamaliel und seine Schutzengel, Evariste, Nestor, Prime, Pascal und jemand anderen von der höherern Klasse, dessen Name ich nicht genau wusste, den Weg durch den Garten hinutersteigen. Sie liefen ganz ruhig. Jeder von ihnen hatte einen Stock in der Hand. Eine Stunde später kamen sie ohne Gamaliel zurück. Eine unbeschreibliche Erregung war auf ihren Gesichtern zu sehen.

Kurz vor dem Mittagessen sprach Evariste mich ironisch an.

« Doudou, wann hast du geplant nach Hause zurückzukehren? »

« Ich kann es noch nicht genau angeben. Sicherlich nächste Woche.».

« Vergiss nicht, mich zu benachrichten. Wir können dich begleiten bis zur Bushaltestelle ».

« Das ist sehr nett von dir ».

Er trug eine Armbanduhr, die mir bekannt war. Sie gehörte Gamaliel. Am Tag davor hatte Evariste diese Uhr noch nicht getragen. Da stimmte etwas ganz und gar nicht. Eine Woge der verschiedensten Gefühle überflutete mich. Und viele kleine Bilder standen blitzartig vor meinen Augen wie lauter flimmernde Warnsignale, die ich in der Vergangenheit nie wahrgenommen hatte.

« Ist Gamaliel denn schon weg? » fragte ich plötzlich.

Evariste erbebte, als ob er diese Frage nicht erwartet hätte.

« Er ist am Morgen heimgekehrt. Wir haben ihm geholfen, seine Eltern wiederzutreffen ».

An jenem Tag aß ich sehr schnell und kam als erster aus dem Refektorium. Ich ging am Obstgarten vorbei, denn eine unbeschreibliche Neugier zog mich dorthin. Ich hatte nicht sehr weit zu laufen. Plötzlich sah ich einen Rabenschwarm ungefähr 100 Meter an meiner linken Seite im Buschwerk. Die Raben schienen sich auf ein unbekanntes Opfer niederzulassen. Gedankenlos richtete ich mich nach den Raben, die sofort wegflogen. Da lag die Leiche von Gamaliel, oder wenigstens, was die Raben noch nicht gefressen hatten. Ich erkannte ihn an seiner Kleidung, die schon zerfetzt worden war. Seine zerschlagener Koffer und manche seiner privaten Sachen waren auch zu sehen.

Ich ging schnell ins Gymnasium zurück in Richtung der Mauer zu, die das Schwimmbad überragte. Ich setzte auf die Mauer und begann zu meditieren. Ich war ganz in Gedanken versunken, so daß ich Ali nicht sehen konnte, der sich mir näherte.

« Was ist lost, Doudou? » fragte er mich.

« Wir sollten so bald wie möglich weggehen. Ich weiß noch nicht wohin, aber wir müssen unbedingt gehen. »

« Gehen wir doch einfach nach Hause !»

« Ich glaube, wir haben kein zu Hause mehr, Ali. Wir müssen das Land verlassen »

« Ich habe Lust, meine Eltern wiederzusehen ».

Etwas sagte mir, es sei nutzlos nach Rumonge zu gehen. Aber ich konnte meinen Freund nicht überzeugen. Ich erzählte ihm, was mit Gamaliel geschehen war. Er blieb lange ganz still, in Gedanken versunken.

« Ich habe das Gefühl, die Massenmorde haben überall stattgefunden » sagte ich zu ihm. « Hast du schon gehört, was in Buhonga geschehen ist? Ich habe das Gefühl, Rumonge sei auch mit Feuer und Schwert verheert worden. Fliehen wir, gehen wir in ein anderes Land».

« Nein, Doudou. Wenn du Lust hast, das Land zu verlassen, sollst du ganz allein gehen. Ich will nach Rumonge fahren! »

Ali war offensichtlich verzweifelt.

Ich war auch verzweifelt. Ich war außerstande zu diskutieren. Wir planten zusammen unsere Flucht. An jenem Abend trat Ali vor aller Augen in mein Zimmer ein. Das erregte die Neugier von Evariste und seinen Mittätern. Als wir ein paar Kleider wuschen, stürmte Evariste in mein Zimmer, als ob er uns bei unserer Unterhaltung ertappen wollte.

« Was macht ihr denn, Kameraden? » fragte er.

« Wie du doch siehst, wir sind gerade dabei unsere Kleider zu waschen », antwortete ich.

« Warum habt ihr sie nicht einfach in die Waschküche des Gymnasiums gelegt? »

« Die Waschküche ist zur Zeit sehr voll. Wir müssen in drei Tagen heimkehren. »

« Gut. Darf ich euch helfen »

« Das ist sehr nett von dir. Aber wir haben nicht so viele Kleider zu waschen ».

« Gut. Vergesst nicht, mich zu benachrichten. Wir können euch begleiten bis zur Bushaltestelle ».

« Einverstanden! »

Er ging hinaus, offensichtlich rückhaltlos.

« Hören wir mit dem Waschen auf. » sagte Ali. « Es ist nicht notwendig uns zu ermüden, Kleider zu waschen, die wir auf jeden Fall zurücklassen werden. Sag’ mal, wieso hast du sofort Evariste und seine Mittäter verdächtigt? »

« Einfach. Ich habe mich gefragt, warum sie behaupten, sie seien die einzigen, den gefahrlosen Weg zu kennen. Auch sind sie wie verwandelt so nett gewesen, daß ich mich fragte, ob sie kein Versteckspiel trieben. Und ausserdem, nachdem sie Gamaliel begleitet hatten, sah ich, dass Evariste seine Armbanduhr trug».

« So dumm! Sie glauben, sie seien die klügsten Menschen auf der Erde. Warum hast du abgelehnt, sie bei der Polizei anzuzeigen? »

« Es wäre für uns einfach zu gefährlich gewesen. Die Armee ist die wirkliche Verursacherin des Massakers. Wir riskieren, für eine Befragung vorgeladen zu werden. Du weißt es schon, daß kein Hutu von der Befragung lebendig zurückkommt. Du erinnerst dich schon an Alphonse. Glaubst du, daß er noch lebt? »

« Aber wir müssen unsere Freunde unbedingt benachrichtigen. »

« Ich habe daran gedacht. Ich habe schon einen Brief geschrieben, den wir unter die Tür von Pater Seigneur’s Büro schieben werden. Er wird ja wissen, was er tun muß. Den anderen werden wir unter die Tür von  Salvator’s Zimmer schieben. Er wird die anderen Kameraden benachrichten. Wir müssen alles umsichtig ausführen.»

« Du hast Recht »

Am Morgen danach verliessen wir das Gymnasium sehr früh. Wir nahmen nur einige Kleider und Dinge, die uns lieb waren mit. Hier und da im Obstgarten lagen faulende Leichen von Schülern und ihre privaten Kleidungstücke.

Nachdem die internationale Gemeinschaft gegen die Massaker protestiert hatte, verminderten die Militärs den Umfang des Massakers in Bujumbura. Aber die Hutus wurden auf dem Land immer noch umgebracht. Die Hutus machten 85% der Bevölkerung aus. Das Ziel des Massakers war, ungefähr 2 Millionen Hutus umzubringen, um in Zahlen Hutus und Tutsis auszugleichen. Die Intellektuellen und Geschäftsleute wurden als erste umgebracht. Diejenigen, die es konnten, flüchteten nach Rwanda, Kongo (damals Zaïre) und Tansania. Die anderen, die noch lebendig waren, fristeten ihr Leben unter dem Terror.

Wir beschlossen nach Rumonge zu fahren, wo es einfacher war, später nach Tansania zu flüchten. Aber wir mussten uns zuerst nach der Lage auf diesem Weg erkundigen.

Wir kamen ohne Problem bei Tante Hasha an. Als sie uns sah, brach sie in Tränenn aus. Sie zog sich für 10 Minuten in ihr Schlafzimmer zurück. Ich war wirklich verblüfft und blieb mit Ali im Wohnzimmer. Wir wussten nicht, was mit Tante Hasha los war.

Als sie schließlich aus dem Schlafzimmer kam, waren ihre Augen rot, aber die Emotion war offensichtlich weg. Sie teilte mir mit, mein Vater sei umgebracht worden, sowie ihr Mann, Onkel Saïd. Ich erfuhr auch, daß fast alle Männer in Rumonge, die nicht flüchten konnten, umgebracht und in Massengräber geworfen worden seien. Manche andere wären einfach in den Fluß Murembwe geworfen worden, um als Nahrung für Krokodile zu dienen. Mein Vater würde dazu gehören. Viele Leichen lagen auch noch überall in Rumonge auf dem Boden herum.

Nie wird jemand mit Gewissheit sagen können, wie viele Leute in der Blutorgie erschossen, erschlagen, in Stücke gehackt, ertränkt, lebendig begraben oder auf andere bestialische Art umgebracht worden waren. Rumonge sei zur Zeit unbewohnt, weil die Leute, die noch lebendig waren, sich in den nahe liegenden Wäldern verbargen. Die anderen würden versuchen zur Nachtzeit mit Pirogen den Tanganjikasee zu überqueren, obwohl sie Gefahr liefen, ihr Leben zu riskieren. Sie konnten ertrinken oder durch die Marine geortet und ohne weiteres ertränkt werden.

Viele EinwohnerInnen von Bujumbura, wurden umgebracht. Die Quartiervorsteher waren alle Tutsis und sie erfassten listenmäßig die Bevölkerung. Die neu Ankommenden mussten sich bei ihnen melden. Die « Verdächtigen » wurden den Militärs ausgeliefert, um im Geheimen umgebracht zu werden. Die Leichen wurden in den Fluß Ntahangwa geworfen. Leichen wurden auch auf dem Tanganjikastrand gefunden. Niemand wusste genau, wie und wann alle diese Leichen dorthin gekommen waren.

Endlich ging mir ein Licht auf, daß Tante Hasha zufrieden und zugleich erschrocken war, mich wiederzusehen. Sie beschloß, uns nicht beim Quartiervorsteher anzumelden und uns in ihrem Schlafzimmer zu verbergen. Beim geringsten Geräusch krochen wir unter das Bett. Die NachbarInnen versprachen, uns nicht anzuzeigen. Wir verbargen uns eine Woche lang. Inzwischen erkundigte sich Tante Hasha nach dem besten Weg um nach Zaïre zu flüchten.

Die Militärs und die Milizen der einzig herrschenden Partei durchkämmten die Reisewege, so daß jeder Fluchtversuch zum Scheitern bestimmt war. Die Militärs und die Milizen verbreiteten Schrecken und Tod. Wir beschlossen, trotz der Gefahr einen Fluchtversuch, denn auch bei Tante Hasha konnten wir gefunden und ohne weiteres umgebracht werden.

An einem bestimmten Abend gab uns Tante Hasha Geld und schlug uns vor, am Morgen danach nach Gatumba zu fahren. Da könnten wir nämlich Führer finden, die uns nach Zaïre begleiten würden. Um kein Aufsehen zu erregen, durften wir kein Gepäck tragen.

Am Morgen danach nahmen wir einen Bus nach Gatumba. Es war ein Markttag. Dort angekommen, gingen wir hin und her und taten, als ob wir Vorräte kaufen wollten. Tante Hasha begleitete uns. Aber aus Vorsicht tat sie, als ob sie nicht zu uns gehörte. Doch dann führte sie ein Gespräch mit einem jungen Velofahrer. Es war ein Führer. Der Mann weg und kam später mit einem anderen jungen Velofahrer zurück. Tante Hasha gab uns einen Wink, uns den diesen Männern anzuvertrauen.

Normalerweise konnte man nach einer dreißigminütigen Reise an Kavimvira’s Zollgrenze eintreffen. Aber bei jener Gelegenheit wäre das der Freitod gewesen. Wir sollten uns lieber nach Kiliba’s Zollgrenze richten. Ein Gerücht ging um, es gäbe eine Gelegenheit, die Grenze heimlich zu überqueren. Die Reise würde vier Stunden dauern. Die Führer teilten uns mit, daß Tante Hasha die Reise bezahlt hätte.

Beide Velofahrer liessen uns hinten aufsitzen und wir fingen die Reise an. Je mehr die Zeit verging desto stärker schlug mein Herz, weil ich die Freiheit herbeikommen fühlte. Ich hatte vergessen, daß ein Unglück selten allein kommt. Nachdem wir 2 Stunden gefahren waren, trafen wir auf einen Fahrweg, der, so schien es mir erst vor kurzem benützt wurde. Etwas stimmte nicht. Wir fuhren auf diesem Radweg weiter. Wenig später hörten wir ein Auto an unserer rechten Seite.

Wir drangen tief in den Wald ein und legten uns hinter ein Buschwerk, von wo wir sehen konnten, was auf dem Fahrweg passierte. Wenig später fuhren ein militärischer Lieferwagen und ein Jeep vorbei. Die Autos fuhren nicht sehr schnell, denn der Weg war in schlechtem Zustand. Durch die Karosserie des Lieferwagens sahen wir Menschen, die fest gefesselt worden waren. Es war schwierig zu wissen, wieviele Menschen es da gab, weil sie, wie Zementsäcke, aufeinander gelegt worden waren. Sie schrien vor Schmerzen und baten die fünf oder sechs Soldaten, die sie zum Tod führten, um Mitleid. Es war gegen Mittag.

Wir blieben einen Augenblick liegen, ohne zu wissen, ob wir unseren Weg weitergehen sollten. Etwa zwanzig Minuten später hörten wir Knattern von Maschinengewehren und Schmerzensrufe. Wir zitterten am ganzen Leib und wagten nicht, wegzulaufen, aus Furcht, die Militärs könnten uns entdecken. Wenig später kehrten die Fahrzeuge zurück. Im Lieferwagen sangen die Militärs aus vollem Halse: « Nimuze tureke kumarana, kuko kuri iyi si turi abagenzi »

Nachdem die Militärs weggegangen waren, beschlossen wir, unseren Fluchtplan zu ändern. Aber beide Führer teilten uns mit, daß sie nicht weiter mitgehen würden. Sie schienen nicht zu wissen, daß die Militärs manchmal diesen Fahrweg benützten. Lange später wurde mir ganz genau gemeldet, dass es viele Leichenhaufen in der Nähe gab. Die Hutu-Zivilisten, die in Bujumbura entführt worden waren, wurden dort umgebracht. Da die Militärs oft zur Nachtzeit die Leute umbrachten, blieben die Leichenhaufen unbekannt.

Was uns betraf, wäre die Rückkehr nach Bujumbura ein Freitod gewesen. Deshalb mussten wir unbedingt unsere Flucht weiterführen und uns den Gefahren aussetzen.

Die Führer nahmen Abschied. Also mussten wir unsere Reise nach Norden zu Fuß fortsetzen. Wir mussten die Fahrwege vermeiden. Die hohen Gräser verdeckten uns, so daß wir ungesehen laufen konnten. Aus Vorsicht drangen wir noch tiefer in den Wald vor. Aber es war kein Glückstag für uns. Kaum waren wir einen Km weitergelaufen, da hörten wir Schmerzensrufe. Wir legten uns platt auf den Bauch.

« Hilfe! Hilfe! », schrie eine sterbende Stimme.

« Hilfe! Hilfe! », schrien andere heisere Stimmen.

Ich hatte eine Heidenangst. Kalter Schweiß floß über meinen Rücken und perlte auch auf meiner Stirn. Wir blieben 30 Minuten lang liegen und wagten nicht, aufzustehen. Schließlich merkten wir, daß es in der Gegend kein Militär gab und richteten uns nach den Schmerzensrufen. Da standen wir niedergeschmettert. Was wir erblickten, erschreckte uns. Etwa zehn lebendige Köpfe mit roten Augen entsproßen der Erde. Arme Menschen! Aus dem frischen Erdboden schloßen wir, daß die Militärs sie vor kurzem lebend begraben hatten.

« Hilfe! Hilfe! », schrien die Köpfe aus letzten Leibeskräften.

Ali lief mit allen Kräften. Ich war auch erschrocken und folgte ihm wie ein Schaf. Zehn Minuten später waren wir schon außer Atem und setzen uns unter einen Baum. Es war sehr sonnig und uns plagten Hunger und Durst. Noch ein paar militärische Lieferwagen fuhren durch die Gegend. Wir sahen sie von weither. Da beschloßen wir, uns zu verstecken und unsere Flucht bei Einbruch der Nacht weiterzuführen. Nach und nach fielen wir vor Müdigkeit um. Gegen 18 Uhr standen wir auf und warteten, daß es ein wenig dunkler wurde um weiterzufliehen.

Gegen 21 Uhr kamen wir an ein Maniokfeld. Wir waren todmüde und von Hunger und Durst geplagt. Wir holten ein paar Maniokknollen aus der Erde, aber sie waren sehr bitter. Da es dunkel war, konnten wir bittere und süße Manioks nicht unterscheiden. Um den Hunger zu stillen, knabberten wir trotzdem an einem Stück bitteren Maniok.

Als wir uns schon an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnten wir ein kleines Dorf an unserer rechten Seite sehen. Es schien ruhig zu sein. Kein Licht war zu sehen, nur einige Blechhäuser glänzten in der Dunkelheit. Wir beschloßen ein wenig auszuruhen, bevor wir uns auf den Weg machten. Wir legten uns auf den Boden und schliefen sofort ein.

Mitten in der Nacht, wurden wir durch das Knattern von Maschinengewehren aufgeweckt. Häuser begannen zu brennen und man hörte die vor Schmerz aufheulenden Leute. Wir begannen nach Norden wegzulaufen. In einem gewissen Moment wussten wir nicht mehr, ob wir in der richtigen Richtung waren. Wir hielten einen Augenblick an, um uns zu orientieren bevor wir weiterliefen.

Im Morgengrauen liefen wir noch weiter. Die Region schien unbewohnt zu sein. Eigentlich sollte der Fluß Rusizi in der Gegend sein; wahrscheinlich hatten wir uns ohne es zu wissen, von ihm entfernt. Kurz gesagt, wir hatten uns verlaufen und mussten uns unbedingt nach Westen richten. Da die Region uns unbekannt war, wäre es gefährlich gewesen am hellichten Tag unsere Flucht fortzusetzen. Wir mussten im Buschwerk bleiben.

Gegen 11 Uhr stießen wir auf einen Froschteich. Der Durst war so unerträglich, daß ich mich entschloß aus dem Teich zu trinken. Ich kniete nieder und betete. Dann räumte ich Algen und Froscheier weg und trank mich satt. Ali staunte mich an. Es ekelte ihn so, daß er unverdaute Maniokstücke erbrach. Nicht weit von da gab es einen dicht belaubten Baum, unter den er kroch und sich hinlegte. Plötzlich wurde mir schwindlig und ich fühlte mich ein bißchen schwach auf den Beinen. Dann wurde mir übel und ich begann, mich zu übergeben. Ich schwankte zu Ali und legte mich neben ihn.

Erst gegen 15 Uhr kamen wir wieder zu uns. Die Rippen und die Augen taten mir weh. Unsere Augen waren rot geworden. Unter diesen Verhältnissen war es sehr schwierig, unsere Flucht weiterzuführen. Um wieder zu Kräften zu kommen, knabberten wir an einigen Wurzeln, die Ali aus der Erde holte. Ich trank noch ein paar Schlucke aus dem Froschteich. Ali tat desgleichen und wir schliefen noch ein Weilchen, bis zum Sonnenuntergang. Von der Distanz, die wir noch zu laufen und den Gefahren, denen wir uns aussetzen mussten, hatten wir keine Ahnung. Wir wussten nur genau, welche Richtung wir nehmen mussten. Der einzige gefährliche Feind war die Mutlosigkeit. Da wir Pfadfinder waren, hatten wir reichlich Mut. Wir waren auch an Strapazen gewöhnt.

Bei Einbruch der Nacht machten wir uns wieder auf den Weg nach Westen. Ein paar Stunden später, kamen wir an den Fluß Rusizi. Auf der anderen Seite lag die Freiheit. Aber es war was anderes, den Fluß zu überqueren. Der Strom war nämlich sehr schnell und das Wasser sehr tief an gewissen Orten. Da wir gute Schwimmer waren, konnten wir ohne Probleme den Fluß überqueren. Aber man behauptete, es würde Krokodile geben. An gewissen Orten war es möglich durchzuwaten. Da wir keine Ahnung hatten wo, beschlossen wir, kein nutzloses Risiko auf uns zu nehmen.

Es gab da einen Weg, der dem Fluß entlang führte. Wir liefen längs des Flußes, immer weiter nach Norden. Ein Stunde später kamen wir an eine Anlegestelle. Da lagen viele Leichen überall auf dem Boden herum, die ekelhaft stanken. Die Pirogen waren zerschlagen.

Wir liefen noch wàhrend zweier Stunden dem Fluß entlang und beschlossen, ein wenig auszuruhen bis zum Tagesanbruch. Das Ende der Nacht verlief ganz ruhig. Am Morgen fanden wir mühelos einen Flußübergang. Wenig später trafen wir zwei zaïrische Gendarmen, die unsere Taschen durchsuchten. Sie nahmen all unser Geld und ließen uns den Weg nach Uvira zu Fuß weitergehen.

Tante Mwali empfing uns jubelnd.

 

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