Weltwoche Nr. 37/99, 16.9.1999

Der Balanceakt des Walter Stürm

Sein Leben war ein ständiger Kampf gegen die Justiz, an dem er schliesslich zugrunde ging: Der bekannteste Strafgefangene der Schweiz hat Selbstmord begangen

Von Marianne Fehr

Hin und wieder lieferte Fleurop einen Bund Rosen ab mit einer Karte, «Gruss Peter», und einmal kam auf Spitalbesuch ein hocheleganter Herr mit randloser Brille, der einen derart riesigen Strauss exotischer Blumen vor sich hertrug, dass die Pflegerinnen zusammenströmten. Er wünschte kurz gute Besserung und verschwand. Walter Stürm hatte einen Galgenhumor und war ein Gentleman, der den Damen galant die Wagentüre öffnete - dass das Auto streng genommen nicht ihm gehörte, tat seinen guten Manieren keinen Abbruch -, und er war einer, der, wie einige Frauen erzählen, mit Geschenken immer etwas übertrieb: ein Doppelliter Chanel No 5, ein Hektoliter edelster Cognac. Dabei war er selber alles andere als ein Mensch, der auf den Fluchten seinen wohl zeitweiligen Reichtum geniessen konnte. In der Isolation wird man gegen sich selbst zum Puritaner. Von 1969 bis 1998 hatte er nie mehr legal in Freiheit gelebt, in ihm war die Unrast des Gehetzten.

Meistens kamen von ihm dicke Briefe, die wenig Persönliches enthielten, sondern die unausgesprochene Botschaft, öffentlich wieder einmal etwas für die Gerechtigkeit zu tun. «Am 30.10. wurde ich durch die Genfer Polizisten hierher nach Porrentruy gekarrt. Die Typen haben mich während der Fahrt mit Handschellen an die Autotüre gefesselt. Und natürlich missachteten diese beamteten Verkehrsrowdys alle Verkehrsregeln, in der Stadt Genf überfuhren sie 6 Kreuzungen bei Rotlicht, und später waren die Geschwindigkeitslimits nur für die andern da. (...) die haben durch ihre Fahrweise nicht nur die andern Verkehrsteilnehmer, sondern ganz besonders auch mich gefährdet und deshalb werde ich gegen diese Typen eine Strafanzeige wegen Gefährdung des Lebens einreichen.»

So schrieb mir Stürm 1992, er hatte gerade wieder einen ruinösen Hungerstreik hinter sich, wurde wieder von hier nach da verlegt, und er reagierte so, wie man es von ihm erwartete: kampfbereit, es der Justiz mit ihren eigenen Mitteln heimzuzahlen. Er verweigerte die Aussage konsequent. Im Verfassen von Eingaben, Strafanzeigen und staatsrechtlichen Beschwerden hatte er es im Lauf der Jahre zur Meisterschaft gebracht, noch so kleine Verfahrensfehler gingen ihm nicht durch die Latten, da war er gewiefter als mancher Staatsanwalt. Auch die Geschwindigkeitsübertretung beim Transport liess er folglich nicht durchgehen, er, der bei der Aneignung fremder Fahrzeuge wählerisch war und auf die Zuverlässigkeit deutscher Autos setzte und sich diebisch freute, einmal in einer französischen Zeitung erwähnt worden zu sein: als jener Unbekannte, der mit weit über 200 Stundenkilometern auf der Autobahn registriert wurde. Zu schnell, um geschnappt zu werden.

«Ich bin, wie immer, ziemlich am Streiten. Aber im Wallis, wo es der Gegenseite an Übung fehlt und das Rechtsverständnis ein sehr besonderes ist, ist das nicht sehr interessant», schrieb er ein andermal. Wer 24 Stunden pro Tag mit sich allein ist, muss wenigstens die Gehirnzellen in Bewegung halten, sich mit einem ebenbürtigen Feind messen können, damit die Lethargie und der Gefängniskoller nicht überhand nehmen. Ein Überlebensspiel, das zum Lebensinhalt wird. Mit seinen spektakulären Ausbrüchen - die Einbrüche seien eher seriöse Handwerksarbeit, wie er sagte - machte sich Walter Stürm in den siebziger und achtziger Jahren einen Namen. Damals war der Strafvollzug in der ausserparlamentarischen Linken ein wichtiges Thema: Das Leben «drinnen» als Seismograph für das Leben «draussen». Der clevere Stürm, der die Sonderbehandlungen der Justiz immer wieder zu spüren bekam, der sich auch für die Rechte von Mitgefangenen einsetzte, war dabei das ideale Aushängeschild. Mit seitenfüllenden, von prominenten Linken und Liberalen unterzeichneten Inseraten gegen «unmenschliche Haftbedingungen», mit Grossdemonstrationen wurden die Zustände angeprangert. Anfang der achtziger Jahre war das Thema «Knast» zudem für all jene ein fast schon persönliches Anliegen, die sich der Zürcher Jugendbewegung anschlossen. Mit frechen Abschiedsgrüssen, wie «Bin beim Ostereier suchen», die Stürm bei seinen Fluchten hinterliess, sorgte er auch für Heiterkeit und Schadenfreude - selbst bei braven Bürgern, die sonst für Gesetzesbrecher nicht viel übrig haben.

In den neunziger Jahren sind die Gruppen, die sich für bessere Haftbedingungen einsetzen, weitgehend verschwunden, und die Stimmen, die für potenzielle Wiederholungstäter «lebenslänglich» fordern, sind umso lauter und unwidersprochener. Um Walter Stürm wurde es in den Jahren vor seiner Freilassung im letzten Oktober ruhiger. Die Konsequenzen seines unermüdlichen Einsatzes badete er allein aus. Die Justiz zahlte es ihm mitüberrissenen Strafen, Schikanen und Haftentlassungsverzögerungen heim. Die linke Prominenz hatte sich längst anderen Themen zugewandt, und Stürm galt als einer, der nicht eingesehen habe, dass sich die Zeiten geändert hätten. Auch hinter den Gefängnismauern gebe es keine Solidarität mehr, jeder schaue für sich, sagte mir Stürm nach der letzten Haftentlassung.

Im März dieses Jahres war er niedergeschlagen, versuchte die mangelnde Freude über die neue Freiheit gar nicht erst zu verbergen. Er sprach von Rückenschmerzen, Gleichgewichtsstörungen und von der Unmöglichkeit, sich unter Menschen zurechtzufinden. Er wirkte müde wie ein verwundeter Kampfstier. Das Zimmer, in dem er vorübergehend wohnte, sah so unpersönlich aus wie eine Zelle; von Zukunftsplänen sprach er mit Unlust. Zwei Tage später war er unter dem Verdacht, zusammen mit Hugo Portmann die Thurgauer Kantonalbank in Horn um 100 000 Franken erleichtert zu haben, wieder im Gefängnis. Er engagiere sich für den zu erwartenden Prozess nicht mehr, erzählte mir seine Anwältin ein paar Tage vor seinem Tod, er sage zu allem, was sie vorschlage, ja und amen. Er sei ein ausgeglichener und stabiler Häftling gewesen, man habe nicht befürchten müssen, dass er sich umbringe, wusste der Pressesprecher der Kantonspolizei Thurgau. Im modernen Gefängnis von Frauenfeld war er wiederum in Einzelhaft, keine Besuche, einige Monate keine Zeitungen, kein Fernsehen.

Tödliche Isolation

Walter Stürms Selbstmord in der Nacht auf den 13. September sind zwei Versuche vorausgegangen. Im Juni 1992 schrieb er: «Als mir dann klar wurde, dass ich mich wehren müsste, weil da ganz bewusst ein Verfahren verschleppt wurde, war ich als Folge der langen Isolationshaft nicht mehr in der Lage, mich zu wehren. Ich habe dann sehr lange Zeit sozusagen auf dem Drahtseil balanciert und mich von einem Tag zum nächsten weitergezogen und psychisch hat's mich von einem Extrem ins andere geworfen. Irgendwann bin ich dann abgestürzt und habe 130 Rohypnol und 2 andere Schlaftabletten eingeworfen. Wenn ich heute darüber nachdenke, dann ist mir klar, dass dies bei derartigen Haftbedingungen und einer so langen Dauer zwangsläufig irgendwann passieren musste, die Frage war lediglich wann und wie. Ich bin dann mit einer Riesenwut im Bauch im Inselspital aufgewacht. Eine Wut hatte ich, weil es mir nicht gelungen war, und vor allem auch, weil mir sofort klar wurde, wie blöde ich gewesen war zu versuchen, mich selbst umzubringen. Denn wenn da jemand umzubringen war, dann war das doch nicht ich.» Die Wut und der Kampfgeist sind ihm abhanden gekommen. Sein Tod bringt die Isolationshaft noch einmal in die Medien.

Als wir uns Anfang März trafen, brachte ich ihm mein Buch über Niklaus Meienberg mit. Meienberg hatte sich in den letzten Briefen als «auslaufendes Modell» bezeichnet - er hatte auch einen Kehrichtsack genommen.

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Walter Stürm / Pressebüro Savanne / savanne@savanne.ch
Letzte Änderung 2000-09-30