WoZ Nr. 49/92, 4.12 1992 (S. 4)

Der Prozess gegen Walter Stürm

Im Zweifelsfall gegen den Angeklagten

Zwölf Jahre für Walter Stürm, neun Jahre für Eduard Rietmann. Das Kriminalgericht des Kantons Jura hat im Namen der Schweizer Justiz Walter Stürm den Meister gezeigt. Er antwortete mit einem Selbstmordversuch.

Von Marianne Fehr

Zum Pruntruter Prozess gegen Walter Stürm und Eduard Rietmann sind ziemlich viele Polizisten aufgeboten worden, ebensoviele, hiess es in der Zeitung, wie zu einem Spiel des einheimischen Eishockeyclubs Ajoie. Sie fuchteln mit Metalldetektoren an den Besucherinnen herum, neusein anfangs noch emsig in den Handtäschli herum, derweil man später wie eine alte Bekannte empfangen wird, ein Witzchen hier, ein charmantes Bonmot da. Der Polizist, den die Kollegen Doudou nennen und der die Eingangstüre zum Gerichtssaal bewachen muss, als könnte sie gestohlen werden, gibt es bald auf, jedesmal aufzustehen, wenn sich jemand draussen die Füsse vertreten will - dieses Geläuf die ganze Zeit, es langweilt ihn nur, er bleibt sitzen und gähnt. Man gibt sich locker - nicht diese verbiesterte Totensonntagstimmung, die bei Prozessen von ähnlicher Publizität in der Deutschschweiz herrscht, wo man ständig von ziviler Polizei umschlichen wird und der Gerichtspräsident mit kollektiver Saalverweisung droht, wenn jemand zweimal vor Empörung hüstelt. Aber man soll nicht vom Klima auf die Absicht schliessen.

Richter, Verteidiger und Ankläger erscheinen in schwarzen Roben mit weissen Schärpen und pelzbesetzten Zipfelchen, die Angeklagten werden vom uniformierten Personal beigebracht. Walter Stürm, nach seinem langen Hungerstreik ein bisschen grauer und dünner als üblich, Eduard Rietmann, der nach seiner Festnahme der Polizei viele Geschichten von gemeinsamen Überfallen und Einbrüchen erzählt hat, mit teilnahmsloser Miene. Nach einem formaljuristischen Vorgeplänkel zieht sich das Gericht ein halbes Stündchen zur Beratung zurück, während sich Journalistinnen, Fotografen und Fernsehleute (man darf dieses Spektakel medial inszenieren) um den Angeklagten Stürm scharen, welcher eine kleine Ad-hoc-Pressekonferenz gibt.

Der Kanton Jura pflegt eine eigenartige Form der Prozessführung. Ein Prozedere wie bei einem Geschworenenprozess, bei dem Zeuginnen vorgeladen werden. Statt Geschworenen amtieren aber Richter, welche die Akten kennen. Urteilen dürfen sie jedoch nur aufgrund der Prozesseindrücke. (Grundsatz der Unmittelbarkeit) Eine seltsame Konstellation in diesem Fall, denn das Belastungsmaterial kommt vom mitangeklagten Eduard Rietmann, der seine Aussagen im Gerichtssaal nicht wiederholt, das protokollierte Geständnis aber nicht zurückzieht.

Es geht hier im wesentlichen um einen bewaffneten Überfall auf die Raiffeisenkasse von Boecourt im Januar 1989 (Deliktsumme Fr. 483 000.-), einen bewaffneten Überfall auf die Freiburger Staatsbank in Kerzers im Februar 1989 (Fr. 372 290.-) und einen bewaffneten Überfall auf die Luzerner Kantonalbank in Reiden im Juni 1989 (Fr. l 066 644.30 plus fünf Millionen Lire). Die Hauptanklagepunkte: bandenmässiger Raub, teilweise mit Geiselnahme. Aufgelistet sind des weiteren an die zwanzig Einbrüche in Möbel-, Haushaltwaren- und Kleidergeschäfte und einen Polizeiposten und Autodiebstähle; die Tatorte sind über die ganze Schweizer Landkarte verteilt - es scheint, als wären hier husch noch ein paar unaufgeklärte Fälle angehängt worden, zur Verbesserung der nationalen Statistik der unaufgeklärten Verbrechen. Denn man kann es sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieselben Männer, die Millionen aus Banken geholt haben sollen, tags darauf ein paar Kaffeemaschinen stahlen oder sich in Boutiquen mit ein paar tollen Klamotten eindeckten.

Die Angeklagten schweigen: keine Angaben zur Person, keine Angaben zu den vorgeworfenen Delikten. Es treten elf Zeuginnen auf. Polizeibeamte, Bankangestellte, Beobachter des Geschehens. Man erfährt, dass Eduard Rietmann vor drei Jahren, als Stürm bereits im Gefängnis sass, in Zürich verhaftet worden war. Er sei anfangs noch etwas verstockt gewesen, «aber immer anständig», habe dann in den Vorgesprächen zu einem Beamten Zutrauen gefasst und gestanden. Rietmann hat bei seiner Verhaftung den Schlüssel eines Chalets in Mostelberg auf sich getragen. Als die Schwyzer Polizei dieses Chalet räumte und Material aus Überfällen sowie einen nicht unterschriebenen Brief fand, war gleichzeitig auch die Presse zugegen. «Blick» titelte: «Geheimes Beute-Lager von Ausbrecher-König Stürm ausgehoben». Am Tag als dieser Artikel erschien, gab Rietmann dem Untersuchungsrichter den Namen des Komplizen bekannt. Für die Polizei war nun der Fall klar: Weder suchte sie im Chalet Fingerabdrücke, noch liess sie den Brief graphologisch beurteilen, noch war sie an anderen Spuren interessiert, die eine Anwesenheit Sturms allenfalls bewiesen hätten. Wenig Eifer auch im Fall von Reiden, wo Stürm im Auto gesessen haben soll. Während zwei Zeugen aussagen, sie hätten im Auto eine Frau mit langen blonden Haaren gesehen, gab Rietmann zu Protokoll, Stürm habe eine schwarze Perücke getragen. Die Polizei hielt sich an diesem kleinen Unterschied nicht lange auf. Die Zeuginnen des Überfalls in Boecourt sind sich ebenfalls uneins. Meint einer, doch doch. Stürm könne der Mann gewesen sein, der Schmiere stand, allerdings in etwas dunklerer Ausführung, tippt der nächste auf Rietmann. Ein Beobachter, der zu Protokoll gab, er habe einen Verdächtigen mit einem riesigen Schnauz zeitungslesend in einem Auto gesehen, will jetzt von einem Schnauz nichts mehr wissen, sondern erinnert sich an eine grosse Nase. Andere Zeugen identifizierten Stürm erst, nachdem sie in der Zeitung gelesen hatten, Stürm sei der Täter, und nachdem sie dort auch die Fahndungsfotos gesehen hatten. Die Zeugenaussagen sind in allen Fällen vage, eindeutige Spuren gibt es nicht.

Weniger eng sieht es Staatsanwalt Arthur Hublard, ein Mann mit grossem schauspielerischem Talent, der wortgewaltig den Schusswaffengebrauch mit und ohne gespanntem Abzug demonstriert. Er sieht Stürm als treibende Kraft und Motor und findet es ein bisschen gemein, dass Rietmann immer die ganze Überfallsarbeit habe machen müssen, während Stürm in gestohlenen Luxusautos gesessen und Radio (Polizeifunk) gehört habe. Stürm, das besage schon die Legende, sei ein Mann mit verwerflichem Lebenswandel, der die Pflichten des Staatsbürgers (Familie ernähren, einer geregelten Arbeit nachgehen, Steuern zahlen) nicht erfülle, sondern sich bloss ständig über Haftbedingungen beklage, weil er im Gefängnis keinen Kaviar bekomme. Hublard fordert vierzehn Jahre für Stürm und zehn Jahre für Rietmann.

Olivier Steiner, der Verteidiger Stürms, plädiert auf Freispruch, er weist auf die fehlenden Beweise hin, listet Verfahrensmängel auf - die Vorverurteilung durch die Presse zum Beispiel - und stellt klar, dass das Gericht nicht über eine Legende zu urteilen habe, sondern sich an die Erkenntnisse dieses Prozesses zu halten habe. Walter Stürm gibt sich optimistisch, vom hohen Strafantrag wenig beeindruckt: «Der tut halt seinen Job, Beweise liegen ja keine vor.» Doch drei Tage später kommt es anders: Ca suffit. Beweise hin oder her, spricht das Kriminalgericht. Zwölf Jahre für Stürm, neun Jahre für Rietmann, der die Überfälle ausgeführt haben soll - seine freundliche Partizipation bei der Untersuchung hat sich mit drei Jahren positiv zu Buche geschlagen. Sturms Anwälte haben eidgenössisch und kantonal Nichtigkeitsbeschwerde eingelegt; auf kantonaler Ebene muss zum Beispiel beurteilt werden, ob in diesem Verfahren nicht der Grundsatz der Unmittelbarkeit verletzt wurde. Olivier Steiner sieht mit dem jurassischen Urteil «wesentliche Verteidigungsrechte verletzt», denn die Verteidigung wurde während dem Untersuchungsverfahren praktisch ausgeschlossen, sie konnte den Zeuginnen keine Fragen stellen.

Die Legende Stürm soll demontiert werden: Aus den Gefängnissen fliehen, flapsige Sprüche hinterlassen, auf die Insel abhauen, sich über Haftbedingungen beschweren, ohne zu büssen - das fehlte noch. Eher nimmt man in Kauf, dass sich das Problem von selber löst.


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Walter Stürm / Pressebüro Savanne / savanne@savanne.ch
Letzte Änderung 2000-09-30