Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift für Friedenspolitik, FriZ 3/98 (15. Juni 1998).
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Das trojanische Pferd am Schwanz aufgezäumt

Das multilaterale Handelssystem hat in 50 Jahren GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) die Ungleichverteilung der Reichtümer und des Zugangs zu Ressourcen massiv verschärft, sowohl zwischen Nord und Süd, West und Ost wie auch innerhalb der einzelnen Regionen. Lässt sich eine gerechtere Verteilung dadurch erreichen, dass eine Sozialklausel in die Handelsverträge eingebaut wird, wie dies NGOs und Gewerkschaften vorschlagen?1

Von Marc Riel*

Da der "freie" Markt die Freiheit der Transnationalen Konzerne (TNCs) meint, auf Kosten der Freiheit und der Rechte einer Mehrheit der Menschen auf der Welt ihre Profite zu maximieren, machen sich seit langem aufgeklärte Geister Gedanken darüber, wie Gegensteuer gegeben werden könnte. Eine alte und immer wiederkehrende Idee ist dabei die Sozialklausel in all ihren Varianten, manchmal ergänzt durch eine Öko-Klausel und eine Demokratie-Klausel. Diese Klauseln sind aus verschiedenen Gründen heftig umstritten: Sie können von den Industriestaaten zu protektionistischen Zwecken missbraucht werden; sie legitimieren die Institutionen des Neoliberalismus und geben der Ausbeutungsmaschinerie ein sänfteres Antlitz; sie greifen nicht die Ursachen der Unterdrückung an, sondern nur die Symptome; sie können die Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen in informellen Wirtschaftssektoren verschärfen; sie richten sich gegen Staaten und ihre Bevölkerung und nicht gegen die TNCs, zu deren Profitsteigerung die Ausbeutung dient; mächtigere Staaten werden erfahrungsgemäss vor internationalen Gerichtbarkeiten weniger oft angeklagt, und klagen öfter als kleinere.

Welche Sozialklausel?

Die Sozialklausel besteht in einer Reihe von Vorgaben, die Staaten erfüllen müssen, um bestimmte Handelsbegünstigungen zu geniessen oder bestimmten handelsbezogenen Strafen zu entgehen. Diese Vorgaben beziehen sich meist auf die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO und beinhalten typischerweise das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und Kollektivverhandlungen, das Verbot von Kinderarbeit, Zwangsarbeit und Diskriminierung und die Lohngleichheit für gleichwertige Arbeit. Diese ILO-Konventionen wurden bereits durch eine Reihe von Staaten ratifiziert. Die ILO hat jedoch keine Vollstreckungsgewalt über eine einfache Rüge hinaus.

Wie eine Umfrage im Auftrag schweizerischer Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bei NGOs und Gewerkschaften des Südens ergab,2 trauen selbst die meisten VerfechterInnen der Sozialklausel der WTO in sozialen Belangen nicht. Trotzdem - und bei dieser widersprüchlichen Haltung dürfte die finanzielle und logistische Abhängigkeit vieler südlicher NGOs und Gewerkschaften von nördlichen kapitalfreundlichen Organisationen wie dem IBFG eine gewisse Rolle spielen - setzt sich in der Praxis der Diskussionen der Vorschlag des Internationalen Bunds Freier Gewerkschaften (IBFG), des Weltverbands der Arbeit (WVA) und des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB) durch. Darin tritt zwar die ILO als Schiedsinstanz auf, die Welthandelsorganisation WTO soll aber vollstreckende Funktionen übernehmen. Der Effekt davon wäre eine Legitimation der WTO. Dies ist denn auch das erklärte Ziel des IBFG. In den Worten von Bill Jordan, dessen Generalsekretär: "Der Weltmarkt braucht eine soziale Dimension, oder er wird scheitern." Ähnliche Ängste hegt der Ausschuss für Aussenwirtschaftsbeziehungen des Europäischen Parlaments im Hinblick auf die Umwelt: "Der Ausschuß unterstreicht [.], daß das gesamte multilaterale Handelssystem von der öffentlichen Empörung ernsthaft bedroht sein wird, wenn die Welthandelsorganisation (WTO) nicht in der Lage ist, die Erfordernisse des Umweltschutzes mit den geltenden WTO-Regelungen und -vorschriften in Einklang zu bringen."3

Südliche NGOs und Gewerkschaften sowie manche ihrer nördlichen PartnerInnen drücken sich sehr vorsichtig aus und äussern eine Reihe von Bedenken und Forderungen, die erfüllt werden müssen, damit sie die Einführung einer Sozialklausel unterstützen. Dazu gehören die Gewährung einer Frist für angeklagte Regierungen sowie das Zusprechen von Mitteln für die in dieser Zeit vorzunehmenden Veränderungen.

Bisherige Verwendung von Sozialklauseln

Die vielleicht älteste Sozialklausel ist das Verbot der Häftlingsarbeit im Artikel XX des GATT. Diese Klausel betrifft aber nur Exportgüter und kann deshalb nicht gegen die USA angewandt werden, wo in verschiedenen Staaten in Gefängnissen produzierte Jeans unter den Labels "Gangsta Blues" oder "Prison Blues" vermarktet werden und Telefonmarketing zu Dumpingpreisen aus Gefängnissen heraus praktiziert wird.

Seit 1971 gesteht die Europäische Gemeinschaft (neo-)kolonialgeschädigten Ländern für den Export von verarbeiteten Industriegütern Vorzugszölle zu - im Rahmen des Systems allgemeiner Präferenzen (GSP), das in EU-Dokumenten manchmal auch als Allgemeines Präferenzschema bezeichnet wird. Das neueste GSP enthält seit dem 1. Januar 1998 eine Sozialklausel. Diese sieht zusätzliche Zollvergünstigungen für jene Länder vor, die nachweisen, dass die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zu Gewerkschaftsrechten, Kollektivverhandlungen und Kinderarbeit Eingang in ihre Gesetze gefunden haben und befolgt werden. Neben dieser Sozialklausel in Form eines Anreizes beinhaltet dieselbe GSP-Verordnung von 1994 auch eine bestrafende Sozialklausel: Auf eine Klage des EGB und des IBFG hin leitete die EU-Kommission am 16. Januar 1996 in diesem Rahmen eine Untersuchung gegen Myanmar (Birma) wegen Zwangsarbeit ein, und am 24. März 1997 beschloss der Europarat die Zurücknahme der Zollpräferenzen, bis das Militärregime diese Praktiken unterbindet.

Ein ähnliches GSP-Programm der USA, das 1974 als marktgerechter Ersatz für "Entwicklungshilfe" eingeführt wurde, beinhaltete von allem Anfang an eine strikte "Demokratieklausel", die die Feindbilder des kalten Kriegs widerspiegelte. 1984 wurden die GSP-Kriterien um eine Sozialklausel ergänzt. Eine Klage von 1993 gegen Malaysia zeigte, dass die US-Regierung nicht gewillt war, gegen die Interessen der US-amerikanischen transnationalen Konzerne (TNCs) im Elektronikbereich Sanktionen zu verhängen. Die Sozialklausel scheint also nicht so sehr direkt protektionistisch gegen eine Konkurrenzökonomie verwendet zu werden - der Protektionismus wird vielmehr über ihre opportunistische und selektive Anwendung realisiert.

Ein Versuch der Einführung einer Art Sozialklausel direkt gegen TNCs sind die Verhaltenskodizes, welche NGOs wie die Erklärung von Bern als pragmatischen Schritt vertreten. TNCs verpflichten sich, sich an gewisse Regeln zu halten, und werden dafür von Boykottkampagnen verschont. Mit der Einführung von Sozial- und Öko-Labels wissen die TNCs solche Initiativen flexibel in ihre Imageproduktion einzubauen. Damit stellt sich dieselbe Frage nach der legitimierenden Kraft solcher Sozialklauseln, ähnlich wie bei der WTO. Die Ausbeutungslogik der TNCs wird dadurch kaum gebrochen. Darüberhinaus ist - in einer Zeit des Outsourcings4 - die Einhaltung derselben Regeln bei den Zulieferbetrieben sehr schwierig zu überprüfen.

Den Teufelskreis durchbrechen

Es ist anzunehmen, dass eine Sozialklausel im multilateralen Handelssystem, sofern sie angewandt wird, die Situation der ArbeiterInnen im formellen Sektor der sanktionierten Länder verbessern würde. Solange aber die TNCs ihr politisch-ökonomisches Gewicht beibehalten, wird dies dazu führen, dass ein erhöhter Druck auf dem informellen Sektor (prekäre Ökonomie) lastet, wo die ILO-Konventionen kaum durchgesetzt werden können, und in den Teile der Produktion zusätzlich ausgelagert werden dürften. Besonders betroffen wären Kinder, trotz Kinderarbeits-Sozialklausel.

NGOs und Gewerkschaftsbündnisse wie der IBFG sind sich bewusst, dass allein das Verhängen von Wirtschaftssanktionen keine Lösung gegen Kinderarbeit sein kann. Den arbeitenden Kindern ihre Arbeit wegzunehmen, ohne ihnen ökonomische und soziale Alternativen zu bieten, verschlimmert deren Situation. Daher schlägt etwa der IBFG kombinierte Programme vor, die Kindern Ausbildungsmöglichkeiten samt Erwerbsausfallentschädigung anbieten. Solche Programme sind auf jeden Fall zu unterstützen. Doch ohne Infragestellung der liberalen Weltordnung bestehen die Verhältnisse weiter, die zu Kinderarbeit erst einmal geführt haben.5 So werden Kinder aus Abhängigkeitsverhältnissen herausgeholt, während andere Kinder sofort ihren Platz in den Sweatshops übernehmen.

Globalisieren wir den Widerstand!

Internationale Abkommen wie die universelle Erklärung der Menschenrechte, Umweltnormen oder die ILO-Konventionen über ArbeiterInnenrechte wurden von unten erkämpft, wenn auch Überbleibsel humanistischen Selbstverständnisses bei den kapitalistischen AkteurInnen manche dieser Kämpfe bisweilen vereinfacht hat. Diese Abkommen sind nur gerade soviel wert wie die kontinuierliche Mobilisierung von Basisbewegungen und AktivistInnen weltweit für ihre Durchsetzung und die Erkämpfung weiterer Handlungsspielräume gegen die Herren des Neoliberalismus, denn in der Durchsetzungsphase unterliegt deren humanistische Ader regelmässig der Logik des Profits. In einer Welt, in der zwei Drittel des Welthandels von TNCs beherrscht wird, wovon sich die Hälfte des Umsatzes aus dem Handel innerhalb der einzelnen Konzerne unter ihren Tochterfirmen ergibt, gilt es, Kämpfe von Basisbewegungen und AktivistInnen in verschiedenen Teilen der Welt zu verbinden und zu koordinieren und sich in diesem Kampf die Spielregeln nicht von den kapitalistischen AkteurInnen und den ihnen untergebenen Rechtsstaaten diktieren zu lassen. Ein Versuch in diese Richtung ist die Gründung der PGA (Peoples' Global Action - Weltweite Aktion gegen "Frei"handel und die WTO), die in dieser FriZ vorgestellt wird, im Februar dieses Jahres in Genf. Vereinen wir unsere Kräfte, um die transnationalen Konzerne zu entmachten!


* Marc Riel ist Mitarbeiter des Pressebüro Savanne, das die zweimonatliche Zeitung die hyäne herausgibt.

Fussnoten:

1 Verschiedene Dokumente zur Sozialklausel sind auf http://www.savanne.ch/socialclause zusammengetragen.
2 Catherine Schümperli (Erklärung von Bern) und Michel Egger (Brot für alle), "Umfrage zum Thema Sozialklausel bei NRO und Gewerkschaften des Südens", Dossier des Jahrbuchs Schweiz-Dritte Welt 1996, IUED (Institut universitaire d'études du développement), Genf.
3 Bericht über die Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zum Thema Handel und Umwelt (KOM(96)0054 - C4-0158/96), 14. Oktober 1996.
4 Outsourcing: Auslagerung von Teilen der Fertigung in Zulieferbetriebe. Diese meist kleinen Betriebe sind oft abhängig von den grösseren AuftraggeberInnen, sodass letztere die Bedingungen diktieren.
5 Siehe hierzu Claude Meillassoux, « L'économie de la vie - Démographie du travail », Editions Page deux, Lausanne, 1997. Insbesondere das Kapitel « Troubles de croissance ».



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